ELTERN BRAUCHEN FLEXIBLE ANGEBOTE UND UNTERSTÜTZENDE BEHÖRDEN
Eltern fühlen sich allein gelassen
Rund 100 Eltern und Fachpersonen aus den Bereichen Volks-, sowie Sonderschulen durfte das
Elternforum Zentralschweiz letzten Samstag in Luzern begrüssen. Das OK, bestehend aus zehn
Organisationen aus dem Behindertenbereich, lud zum Thema «Integrative Bildung – Chancen und
Risiken» ein.
Die integrative Sonderschulung wirft für Eltern viele Fragen auf: Erhält mein Kind in der Regelschule
die Förderung, die es zur Entfaltung seiner Fähigkeiten benötigt? Wird mein Sohn darunter leiden, der
schwächste Schüler der Klasse zu sein? Wird meine Tochter bei der Suche nach einer guten
«Anschlusslösung» nach der Schulzeit ausreichend unterstützt? Darüber diskutierten in einem breit
aufgestellten Podium:
• Nadja Kos, Mutter eines 9-jährigen Sohnes mit geistiger Behinderung und Sprachstörung, welcher
die Heilpädagogische Schule besucht.
• Christian Iten, Vater einer 10-jährigen Tochter mit Körperbehinderung, welche die Regelschule
besucht.
• Barbara Irniger, Mutter eines 11-jährigen Sohnes mit geistiger Behinderung. Als Grossstadträtin
beschäftigt sie sich auch politisch mit «Integration und Separation».
• Martin Imhof, Abteilungsleiter Sonderschulung Dienststelle für Volksschulbildung des Kanton
Luzerns.
• Beatrice Merz, Angebotsleiterin Sehen Plus im HPZ SONNENBERG Baar.
• Louis Amport, der 32-Jährige lebt seit der Geburt mit Cerebralparese und sitzt im Rollstuhl. Er
besuchte die Regelschule und war dort mit diversen «Hürden» konfrontiert. Heute arbeitet er als
Selbständiger im Behindertensensibilisierungsbereich.
Bruno Achermann, ehemaliger Dozent an der PH Luzern, Begleiter von Inklusiven Entwicklungen und
Mitherausgeber des Standartwerkes «Index für Inklusion» eröffnete den Anlass mit einem Input
Referat.
Moderatorin Regula Späni führte gekonnt durch die nachfolgende Diskussionsrunde und öffnete die
Fragen im Anschluss auch für das Publikum. Schnell wurde klar, dass Familien bei der Thematik rund
um die schulische und berufliche Integration kaum unterstützt werden. Sie fühlen sich allein gelassen.
Bea Merz, Vertreterin einer Sonderschule betonte: «Schwarz-Weiss-Denken bringt uns nicht weiter.
Eine Sonderschule ist nicht per se etwas Schlechtes. Es braucht beide Systeme sowie Angebote
dazwischen. Auch in Zukunft!»
Entscheidend ist, dass sich ein Kind willkommen fühlt. Egal wo es zur Schule geht. Ebenfalls sollen
soziale Kontakte vor Ort gefördert werden. Ob in der Schule oder Freizeit, wichtig ist, dass sie
ermöglicht werden.
Der 32-jährige Louis Amport hat aufgrund seiner Cerebralparese den Kindergarten und die ersten
zwei Schuljahre in einer Sonderschule verbracht. Seine Mutter war die treibende Kraft, die auf einen
Wechsel in die Volksschule hinzielte. Dies wurde ihm ab der 3. Primarklasse ermöglicht. Er zeigt sich
erstaunt, dass die Stolpersteine für einen Zugang zur Regelschule offensichtlich die gleichen sind, wie
vor 20 Jahren. Auch für ihn ist klar, es gibt kein Patentrezept. Jede Familie entscheidet für sich. Offen
sein, sollten jedoch beide (Schul-)Türen.
Einig sind sich die anwesenden Gäste insofern, dass es im Kanton Luzern eine Beratungsstelle
braucht, an welche sich betroffene Eltern wenden können im Hinblick auf den Schuleintritt ihres
Kindes mit einer Behinderung. Denn das Gefühl, des allein gelassen Werdens, dies teilen sie alle.
Eltern und Fachkräfte fragen sich, ob ein selbstbestimmtes Leben eine Illusion sei
Am Samstag, 17.09.2022 trafen sich rund 90 Eltern, Fachpersonen und Instutionsvertretende zum dritten Elternforum Zentralschweiz. Das Thema der diesjährigen Ausgabe war «Selbstbestimmt Leben – eine Illusion?». Nach einem Impulsreferat von Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst Procap Schweiz, leitete Regula Späni die Podiumsdiskussion mit spannenden Gästen bestehend aus Eltern, Geschwister von Menschen mit Behinderung und Selbstvertreter*innen.
«Jeder Mensch soll die Wahlfreiheit haben, wie und wo er wohnen will. Er soll ein Recht auf Arbeit haben, soll politisch partizipieren können». Dies sieht Selbstbestimmung vor, wie sie die UNO-BRK fordert. Doch, wie sieht dies in der Umsetzung aus. Auf politischer Ebene ist einiges im Tun, aber die Umsetzung des UNO-BRK ist in der Schweiz noch weit weg. Martin Boltshauser zeigt als Rechtsanwalt und Mitglied der Geschäftsleitung von Procap Schweiz auch seine Zerrissenheit auf. Denn die Bestimmungen des UNO-BRK sind rechtlich nicht direkt einforderbar. Es sei nur eine Empfehlung an den Staat. Er empfiehlt kleine, umsetzbare Schritte anzustreben, statt grosse, kaum erreichbare. Mit unrealistischen Zielen und Forderungen verlieren wir in der Politik.
Auf dem Podium diskutierten:
• Marco Christen, Vater eines 11jährigen Sohnes mit Mehrfachbehinderung
• Monika Bachmann, Mutter eines 18 jährigen Sohnes mit einem ausgeprägten ADHS
• Anja Niederberger, Schwester von einer jungen Frau mit Mehrfachbehinderung
• Silvan Stricker, Projektleiter Soziale Einrichtungen Kanton Zug
«Ich wünschte, meine Mutter könnte das Leben führen, das eine Frau führen würde, mit sogenannt normalen erwachsenen Kindern. Auswärts arbeiten gehen und auch einmal über das Wochenende
verreisen».
Anja Niederberger, Schwester
«Niemand sagt einem, was man mit einem Kind mit Mehrfachbehinderung zugute hätte».
Marco Christen, Vater
«Es geht künftig um die Menschen. Nicht mehr um die Einrichtungen. So erreicht man, dass Behindertenpolitik gesamtgesellschaftlich angeschaut wird».
Silvan Stricker, Projektleiter Soziale Einrichtungen
Unterschiedlich sind die Ausprägungen der Behinderungen, die auf dem Podium zusammentreffen. Selbstbestimmung im Kleinen ist jedoch möglich. Jedoch braucht dies Zeit und Ressourcen. So zum
Beispiel nennen alle betroffenen Personen die Suche nach geeigneten Assistenzpersonen als deutlich erschwert. Auch der administrative Aufwand bei einem Team von Assistenzpersonen ist enorm
hoch.
Es geht um Sichtbarkeit, Wissen und Bewusstsein von Menschen mit einer Behinderung mitten in unserer Gesellschaft. Die Politik soll auch Menschen unterstützen, die bereit sind Menschen mit
Behinderung in ihrem Betrieb zu integrieren und zu fördern.
Beim anschliessenden Apéro riche nutzten die Eltern, Fachpersonen und Vertreter:innen der Politik die Gelegenheit sich auszutauschen.
Nicht allein zu sein mit seinen Themen, Sorgen und Ängste, dies tue gut. So die Rückmeldung vieler anwesender Gäste.
Eltern von Kindern mit einer Behinderung gehören dazu
Am Samstag, 18.09.22 trafen sich 100 Eltern in Luzern oder auch zu Hause vor ihrem Bildschirm zum zweiten Elternforum Zentralschweiz. Das Thema der diesjährigen Ausgabe war «Gehören wir dazu?».
Nach einem berührenden Impulsreferat von Ann-Christin Plate aus Berlin, leitete Regula Späni die Podiumsdiskussion mit spannenden Gästen bestehend aus Eltern, Geschwister und Menschen mit einer
Behinderung.
Anne-Christin Plate, Mutter eines Jungen mit Down-Syndrom, wählte die Kunst als Bewältigungsstrategie. Ihr Film «IKTAMULI» zeigt all die Gefühle wie Freude, Glück, Selbstmitleid, Wut, Trauer mit
Zeichnungen und Sprache. Sie realisierte diesen Film für sich aber auch alle Eltern mit einem Kind mit Behinderung. Ihr Referat war ein stimmiger Einstieg in die Frage im Raum «Gehören wir
dazu?»
Auf dem Podium sassen
«Wir Eltern sind Experte im Leben unseres Kindes. Ich wünschte mir, dass wir auch von Fachpersonen, Ärzt:innen, Therapeut:innen als diese wahrgenommen werden».
Erhard Widmer, Vater über die Haltung von aussen
«Wenn Menschen im Rollstuhl an gewisse Plätze nicht hingehen können, fehlt auch das Bewusstsein, dass es schwierig ist diesen Ort zu erreichen. Wir sind schlichtweg nicht sichtbar».
Harriet Bucher, Schwester, studiert Raumplanung an der ETH Zürich
«Ein Grossteil der Behinderungen werden im Verlauf des Lebens erworben. Behinderung geht uns alle etwas an».
Sara Satir, Mutter und Coach
Zum Abschluss fragt Regula Späni Jahn Graf, ob wir um die Rechte lauter fordern sollten statt höflich zu bitten. Er entgegnet, immer mit erhobenen Zeigefinder durch die Gegend zu gehen, sei
anstrengend. Da bekomme man den Krampf. Vielmehr brauche es wohl ein gesundes Mittelmass. Aber, die Gesellschaft bewege sich nicht, wenn wir nicht sichtbar sind.
Beim anschliessenden Apéro riche nutzten die Eltern vor Ort die Gelegenheit sich auszutauschen. Nicht allein zu sein mit seinen Themen, Sorgen und Ängste, dies tue gut. So viele Stimmen. Ja, wir
gehören dazu.
Livestream 2. Elternforum Zentralschweiz: https://youtu.be/wTl3D0cPEXM
Zum ersten Mal fand am vergangenen Samstag in Luzern das Elternforum statt. Dieses richtet sich an Familien mit einem Kind mit einer Behinderung und Fachleuten. Dabei zeigten Familienangehörige auf, was es heisst in einer leistungsorientierten Gesellschaft anders zu sein.
Nadja Stadelmann Limacher
Rund 100 Gäste, darunter betroffene Eltern, Grosseltern, Fachleute und ein einziger Vertreter aus dem Kantonsrat trafen sich vergangenen Samstag zum 1. Elternforum in der Zentralschweiz im Hörsaal der Hochschule Luzern HSLU. An der Strasse gegenüber wurden derweil 20 Kinder mit einer Behinderung professionell betreut. So konnten möglichst beide Elternteile dem Elternforum beiwohnen.
In der Schweiz wenig geforscht
Bereits im Impulsreferat von Natalie Zambrino über die Forschung der betroffenen Familien in Deutschland und der Schweiz kam zum Tragen, was die Familie über viele Jahre oder gar lebenslang stemmen muss. Die Belastung für sämtliche Angehörige ist stark erhöht. Im Kanton Luzern lebt die Mehrheit aller Kinder mit einer Behinderung zu Hause. Nur ungefähr 15% wohnen in einer Institution. Mütter leisten im Durchschnitt den grössten Anteil an Unterstützung und Pflege. Die Paarbeziehung der Eltern hat eine sehr grosse Bedeutung und ist zusätzlich mehr Konfliktpotential ausgesetzt. Die betroffenen Familien setzen den Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf den innerfamiliären Bereich sowie die wichtigsten Angelegenheiten. Für Aussenkontakte fehlt oftmals die Zeit und Energie. Es sei zu vergleichen, als wenn die Gebrauchsanweisung für das Leben verloren gehe.
Verschiedene Rollen in den betroffenen Familien
Moderatorin Regula Späni gelang es in der Podiumsdiskussion die verschiedenen Rollen von Mutter, Vater, Grossmutter, Bruder abzuholen und mit der Forschung zu verknüpfen. Schnell kam zum Tragen, dass in einer leistungsorientierten Gesellschaft, die Belastung mit einem Kind mit einer Beeinträchtigung enorm ist. Marisa Widmer, Mutter eines Jungen mit einer Mehrfachbehinderung sagte: „Es ist wichtig, aus dieser Ohnmacht heraus und wieder ins Handeln zu kommen. Kleinste Schritte sind notwendig für sich selbst, für die Partnerschaft und die ganze Familie“. Was vorher noch wichtig schien, gilt nicht mehr. Roman, Vater eines 12jährigen Mädchens mit dem Angelman Syndrom sagte dazu: „Wir haben Krisen in der Paarbeziehung, streiten uns jedoch nicht über banale Dinge, wie zum Beispiel die Farbe der Wandplatten in der Küche. Diese Dinge haben keine Relevanz mehr.“ Der Alltag mit drei Jungen mit ADHS ist für Mutter Priska Hunkeler nur gut machbar, weil sie auf dem Bauernhof Haus- und Feldarbeit gut aufteilen und der Vater dadurch täglich anwesend ist. „Mit dem Schuleintritt des ältesten Jungen fingen die Probleme an, beim dritten Sohn mit der Diagnose konnten wir bereits auf unsere Erfahrung bauen. Der vierte Sohn ist noch nicht durch die Abklärung gelaufen, zeigt aber klar auch die Tendenz zu ADHS.“ Das Mitttragen der ganzen Familie, des gesamten Umfeldes ist von grosser Bedeutung. So werden auch Grosseltern besonders gebraucht. Edith Ledergerber ist die Grossmutter von zwei Mädchen mit einer schweren Mehrfachbehinderung. Wenn sie und ihr Mann mit den beiden ins Restaurant gehen, werden sie schon mal komisch angeschaut und auch gefragt, warum diese beiden nicht sprechen, essen oder laufen können. Die Sorgen um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter sei gross, aber auch die Hochachtung. So sagt sie: „Die beiden leisten Grosses und machen es super!“. Für Jarmo Fiechter war seine Schwester mit dem Down Syndrom klar massgeblich, dass er sich zum Fachmann Betreuung ausbilden lies, nicht weil er musste, sondern weil er wollte.
Abhängig von politischen Entscheiden
In der Diskussion mit den betroffenen Eltern und Fachleuten kamen sowohl heftige Emotionen, Schwierigkeiten und Widerstände wie zum Beispiel gegenüber Entscheiden der IV als auch positive Erfahrungen und Lösungsansätze zur Sprache. Immer wieder für die Bedürfnisse seines Kindes hin stehen zu müssen, hartnäckig zu sein gerade für Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, brauche eine enorme Kraft und Ausdauer. Auch über die Rolle der Politik wurde diskutiert. Kinder mit besonderen Betreuungsanforderungen in Regelschulen zu integrieren und gleichzeitig Sparpakete zu schnüren sei eine giftige Mischung für Betroffene. Der einzige anwesende Kantonsrat David Roth von der SP Luzern wurde damit konfrontiert. Er sagte dazu, mit einer gewissen Distanz an Zahlen zu schrauben und nicht hinzusehen, was das bei den betroffenen Familien konkret auslöst, sei einfach. Er wolle diese Familien ernst nehmen und sich für deren Anliegen in der Politik stark machen.
Romantisierung von Behinderung in den Medien
Dass es immer wieder TV-Sendungen über Menschen mit einer Behinderung auch in der Schweiz gäbe, ist zwar positiv. Dennoch fällt auf, dass diese mehrheitlich über das eine Behindertenbild berichtet und die Sonnenseiten aufzeigen. Dadurch besteht die Gefahr, zu romantisieren, ein Kind mit einer Behinderung zu begleiten, sei oftmals nicht romantisch und nicht leicht. Da waren sich die Anwesenden einig. Der anwesende Youtube-Blogger Jahn Graf sagte klar, dass er nicht immer über seine Körperbehinderung reden wolle. Es gäbe noch so viel mehr zu sagen.
Beim Anschliessenden Apéro riche nutzten die anwesenden Eltern die Möglichkeit zum Austausch, vernetzten sich und formulierten, dass es einfach auch gut tue, zu sehen, dass man nicht alleine sei. Das Datum des zweiten Elternforums vom 19. September 2020 notierten sie sich bereits. Das neue Angebot sei wertvoll und wolle genützt werden. Das Elternforum wurde durch verschiedene Organisationen ins Leben gerufen und finanziell getragen.